Philosophie

«Im Denken liegt der Anfang, aber nicht das Ende der Philosophie. Räsonieren und Argumentieren ist noch nicht Philosophieren.»

Troxler als Philosoph und Professor für Philosophie

Es muss einer objektiven historischen Betrachtung recht eigentlich als Rätsel erscheinen, dass der von Fachleuten als der «grösste Philosoph, den die Schweiz hervorgebracht hat» [1], [2] angesehene Troxler bis heute in weitesten Kreisen des schweizerischen und abendländischen Kulturlebens so gut wie unbekannt geblieben ist. Dies lässt sich nur dadurch erklären, dass sein Geistesstreben und -erkennen in eine Richtung zielte, die sich der zeittypischen naturwissenschaftlichen Vereinnahmung und den agnostizistischen Tendenzen der Philosophie widersetzte. Schon seine frühen philosophischen Schriften sprechen von der geistigen Wesenheit des Menschen, seine Hauptwerke aus den Aarauer Jahren, die er mit 48 und 49 Jahren verfasste, und am meisten seine Vorlesungen über Philosophie knüpfen diese an die mystischen Tatsachen der Christuswesenheit und des Christuswirkens an. Rudolf Steiner war es, der im 20. Jahrhundert Troxlers philosophisches Wirken als erster aus einer über fünfzig Jahre dauernden Vergessenheit befreite und ihm den angemessenen Platz innerhalb der Philosophiegeschichte des 19. Jahrhunderts zuwies. [3]

Aussergewöhnliche Denkfähigkeit, verbunden mit breitestem Interesse für die Welt des Sinnlichen und Übersinnlichen, bewies Troxler schon als Knabe. Hinzu kam eine ebenso aussergewöhnliche sprachliche Gewandtheit und Schlagfertigkeit.

Troxlers autobiografischen Fragment ist zu entnehmen, welche Faszination und innere Befriedigung ihm die Auseinandersetzung mit den Philosophien des deutschen Idealismus, namentlich den Geistesgrössen Fichte, Schelling und Hegel, bereitet hat. Im «Saalathen Jena» blühte der an der Schwelle zum Erwachsensein Stehende förmlich auf. Sich geistig mit den Grundfragen des Lebens und des Erkennens zu beschäftigen, war ihm tiefstes Bedürfnis, regte ihn zu eigenen Gedankengängen an und führte dazu, dass sich Troxler auf dem Fundament eines breit erworbenen Wissens eine die Naturphilosophie transzendierende Geistesphilosophie mit dem Menschen im Zentrum erbildete.

Mit 19 Jahren begann Troxler sein Studium generale in Naturwissenschaft, Medizin und Philosophie in Jena. Sein wichtigster, geliebter und verehrter Lehrer wurde Schelling. Dieser war nur fünf Jahre älter als er, und auch Hegel, der sich 1801 zum Professorenkollegium gesellte, war zu dieser Zeit erst 31 Jahre alt. Max Widmer [4] schreibt zu dieser Konstellation: «Innerhalb der zwölf Jahre von 1794 bis 1806 wurde hier die gesamte Geistessubstanz der deutschen philosophischen Klassik eruptionsartig von Fichte, Schelling und Hegel geschaffen. […] Troxler kannte und studierte sie alle und setzte sich mit ihnen immer wieder auseinander durch die Jahrzehnte seiner eigenen Entwicklung, am ausgeprägtesten aber mit Schelling, da ihm als Arzt das Problem des Lebens und der ganzen Natur am nächsten lag und gerade Schelling den Versuch unternommen hatte, in die Geheimnisse der Naturreiche philosophisch einzudringen.»

Ein Überblick über Troxlers philosophisches Wirken lässt sowohl eine klare zeitliche Gliederung wie auch deutliche biografische Signaturen erkennen.

Alter Tätigkeit Charakteristik
19–23 Studium in Jena: Fichte, Schelling, Hegel; Philosophiegeschichte. Aufnahme von Wissen und dadurch Inspiration des eigenen Denkens.
26–32 Eigene philosophische Frühwerke erscheinen: Über das Leben und sein Problem, Elemente der Biosophie, Blicke in das Wesen des Menschen. Kühne eigenständige Gedankengänge zu umfassenden philosophischen Fragestellungen. Betonung und Behauptung der Eigenständigkeit.
39–41 Lehrer unter anderem für Philosophie am Lyzeum Luzern.
Schreibt seine Philosophische Rechtslehre.
Erstes Auftreten als Lehrer und Dozent der Philosophie, im Mittelpunkt stehen die Rätselfragen des Menschenwesens.
43–50 Lehrtätigkeit am Lehrverein Aarau. Gegen Ende entstehen die beiden philosophischen Hauptwerke Naturlehre des menschlichen Erkennens oder Metaphysik und Logik, die Wissenschaft des Denkens und Kritik aller Erkenntnis. Das philosophische Gedankengut wird in reifer, geläuterter Form dargestellt. Streben nach einer als «Anthroposophie» bezeichneten umfassenden Philosophie. Es folgt die Berufung an den Lehrstuhl der Universität Basel.
50–51 Professor für Philosophie und Rektor an der Universität Basel. Nur wenige Monate ungestörte Lehrtätigkeit, durch politische Wirren und Verstrickungen weiteres Wirken verunmöglicht.
54–57 Professor an der Universität Bern. Herausgabe der Vorlesungen über Philosophie, später Herausgabe der Teutschen Theologie. Philosophie wird mit dem neutestamentlichen Evangelium und dem Christusimpuls verbunden. Deutliches Sich-Absetzen vom materialistischen, agnostizistischen Zeitgeist.
Ab 57 Keine größere philosophische Abhandlung mehr. Eine umfassende «Anthropologie» als Alterswerk bleibt unverwirklichtes Vorhaben. Stößt an die Grenzen einer noch weiter führenden philosophischen Erkenntnisfähigkeit.

Troxlers philosophische Publizistik gliedert sich in zwei Hauptphasen: Die Frühwerke entstanden zwischen 26 und 32 Jahren, die Hauptwerke im Alter von über 48 Jahren. Schon die frühen Schriften lassen erkennen, wie der Autor sich in eigenständiger Weise mit den Seins- und Wesensfragen auseinandersetzt: «Troxler tastet gleichsam das ganze Menschenwesen in allen seinen Dimensionen ab und stösst auf tiefe Rätselfragen, die auf unerforschte Bereiche hindeuten. Er hütet sich, zu früh schon abzuschliessen und irgendetwas von der Totalität des Menschen als unerforschbar auszuschliessen und sich auf ein auf das bloss Natürliche reduziertes Bild des Menschen zu beschränken …» [5]

Das reife Werk Troxlers umfasst die Naturlehre des menschlichen Erkennens, die Logik und die Berner Vorlesungen über Philosophie. Hier wird das in den Jugendwerken Angelegte fortgeführt und vertieft. Schon 1822 erklärte Troxler: «Ich werde meine Anthropologie schreiben, denn wir haben noch keine, und wenn eins, so ist dies mein Gebiet. Ich fühle mich immer stärker in der Lösung meiner grossen Aufgabe. Ich denke aus einem ganz eigenen Gesichtspunkte, der höher steht, als alle mir bekannten und der die Hoffnung in sich birgt, die erste wirkliche vollständige Physiologie des Menschen zu geben. Ich erliege fast unter der Masse von gesammeltem Material. So will ich nun das Flügelpferd besteigen.» [6] In diesen Worten spricht sich eine Sicherheit und ein Vertrauen in die eigene Fähigkeit aus, aber auch ein Sendungsbewusstsein, in welchem sich Troxler aus höheren Impulsen, mit höheren Mächten im Einklang handelnd erlebt.

«Was Troxler als Strebensziel vor Augen hatte: die Vereinigung von Philosophie, Anthropologie und christlicher Religion zu einem neuen Kulturimpuls, nannte er Anthroposophie. Wegen der mächtig einsetzenden materialistischen Naturwissenschaft sah er sie vorläufig als unmöglich an und anvertraute sie, wie Goethe seinen Faust, einer zukünftigen Zeit. Troxler erscheint in seiner ganzen überzeitlichen Grösse, wenn er schon 1828 in seiner Metaphysik schreibt: Doch es wird eine Zeit kommen, und sie ist nahe, wo die Anthroposophie die Naturerscheinungen des Geisterreiches im Menschen dem Geiste erklären wird, wie die Physik den Regenbogen dem Gesicht und die Äolsharfe dem Ohr wirklich auseinandersetzt[7]

Troxler selber konnte den Weg dieser von ihm als «Anthroposophie» angestrebten Philosophie, den er mit 48 Jahren vorzeichnete und als etwas Zukünftiges erkannte, in seinen späteren Lebensjahren nicht mehr wesentlich weiter erkunden. Auch fanden sich kaum mehr Zeitgenossen, ausser vielleicht G. H. Schubert und I. H. Fichte, die seinen Gedankengängen und Vorstellungen folgen konnten oder mochten.

Biografisch drückt sich dieser Sachverhalt darin aus, dass seinen Vorlesungen über Philosophie keine Werke mehr folgen, dass er als Professor der Philosophie auf dem Lehrstuhl der Universität Bern  immer mehr vereinsamte und dass nun an Stelle seines philosophischen sein politisches Wirken weit wichtiger wurde.

Aphorismen Troxlers zu Denken und Philosophieren

Stichworte zu Troxlers philosophischer Anthropologie

Anthropologische Wende / Von der Physik notwendig vorausgesetzte Metaphysik / Das über das Reale und Ideale erhabene Übernatürliche / Kritik des humanwissenschaftlichen Materialismus / Kritik des Leib-Seele-Dualismus / Nachkantischer Idealismus / Tetraktys als ontologisches Prinzip / Lebens- oder Ätherleib als übersinnlicher Leib / Gemüt als harmonisierendes geistiges Zentralorgan des Menschen / Erkenntnisproblem / Verhältnis von sinnlicher zu übersinnlicher Erkenntnis / geistige Wahrnehmungsorgane / Meditation als Erkenntnismethode / übersinnlicher Geist, übergeistiger Sinn / Philosophie als Theosophie / Philosophie als Poesie / philosophische Anthropologie als zukünftige Anthroposophie.

«Es ist ein Weg, der zwischen der Spekulation von Hegel und dem Empirismus, den Schelling als positive Philosophie im Gegensatz zur negativen vorschlägt (…), hindurch und zu einer höhern Potenz emporführt. Auf diesem Wege schöpfe ich Hoffnung, eine wahre Transcendentalphilosophie begründen und diese mit dem Geiste des christlichen Evangeliums (nicht mit dem biblischen Buchstaben oder der kirchlichen Dogmatik) in Zusammenhang und Einklang bringen zu können.»

Troxler an Varnhagen, 1836

Troxlers philosophische Schriften in chronologischer Folge

Troxlers philosophisches Denken bildet die Grundlage aller seiner Schriften und Verlautbarungen; hier sind nur diejenigen Schriften aufgeführt, die im engeren Sinne seine philosophische Anthropologie, von ihm später als Anthroposophie bezeichnet, zum Inhalt haben.

(*) Titel im Buchhandel erhältlich, z.T. in Restauflage. Einige Titel werden antiquarisch angeboten.

Elemente der Biosophie, o.O. 1807 (Reprint Saarbrücken 2006; 119 Seiten).

Über das Leben und sein Problem, Göttingen 1807 (40 Seiten).

(*) Blicke in das Wesen des Menschen, Aarau 1812 (Neuauflage, hg. von H. E. Lauer, Stuttgart 1921; 259 Seiten).

(*) Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik, Aarau 1828 (360 Seiten), neu herausgegeben von Hans Rudolf Schweizer 1985.

Logik. Die Wissenschaft des Denkens und Kritik aller Erkenntnis zum Selbststudium und für Unterricht auf höhern Schulen. 3 Bände, Stuttgart/Tübingen 1829/30.

(*) Vorlesungen über Philosophie, über Inhalt, Bildungsgang, Zweck und Anwendung derselben auf’s Leben, als Enzyklopädie und Methodologie der philosophischen Wissenschaften, Bern 1835 (380 Seiten), neu hg. von F. Eymann, Bern 1942.

Das seltene, uralte und geistreiche Büchlein die teutsche Theologia oder die Christusreligion in ihrer echten reinen Konfession, wie dieselbe vor der Kirchentrennung bestanden, St. Gallen 1837 (132 Seiten).

Aeppli Willi, I. P. V. Troxler, Fragmente. Erstveröffentlichung aus seinem Nachlasse, St. Gallen 1936.

Schellings und Hegels erste absolute Metaphysik (1801/1802), zusammenfassende Vorlesungsnachschriften von I. P. V. Troxler, hg. von Klaus Düsig, Köln 1988

Philosophische Enzyklopädie und Methodologie der Wissenschaften, zusammengestellt durch Iduna Belke, Beromünster 1953.

Zu Troxlers Philosophie und Troxler als Philosophen

(*) Die mit Stern markierten Titel sind im Buchhandel erhältlich, z.T. in Restauflage. 

Aeppli Willi, I. P. V. Troxler. Aufsätze über den Philosophen und Pädagogen. Sonderdruck aus: Die Menschenschule, internationale Monatsschrift für Erziehungskunst und Lehrerbildung im Sinne Rudolf Steiners, Basel 1929.

Belke Iduna, I. P. V. Troxler. Sein Leben und sein Denken. Neue deutsche Forschungen, Abteilung Philosophie VII, Berlin 1935 (auch als Separatdruck 1948 in Beromünster erschienen).

Belke Iduna, Ignaz Paul Vital Troxler. Philosophische Enzyklopädie und Methodologie der Wissenschaften, zusammengestellt durch Iduna Belke, Beromünster 1953.

(*) Büttner Stefan, Ignaz Paul Vital Troxler, in: Thomas Bach/Olaf Breidbach (Hg.): Naturphilosophie nach Schelling, Schellingiana 17, Stuttgart-Bad Cannstatt 2005, S. 775 – 801.

Daguet Alexandre, Troxler, le philosophe et publiciste national, Journal de Genève 1866.

(*) Dollfus Andreas, Ignaz Paul Vital Troxler. Geistiger und politischer Erneuerer der Schweiz. Eine Anthologie, Schaffhausen 2005.

Ehret Hermann, I. P. V. Troxler und I. H. Fichte, in: Die Drei. Zeitschrift für Wissenschaft, Kunst und soziales Leben, Stuttgart 1966, Nr. 5, S. 332 – 337.

Endrich Edmund, I. P. V. Troxlers Logik und Erkenntnistheorie, ein kritischer Beitrag zur Geschichte dieser Wissenschaft, Borna-Leipzig 1910.

Güntensperger Albert, Die Sicht des Menschen bei I. P. V. Troxler, Bern/München 1973.

(*) Heusser Peter, Der Schweizer Arzt und Philosoph I. P. V. Troxler (1780 – 1866). Seine philosophische Anthropologie und Medizintheorie, Diss. med. Basel 1983.

Hilmer Brigitte, Troxlers anthropologische Wende, Vortrag Universität St.Gallen 8.5.2015

Lauer Hans E., I. P. V. Troxler. Ein schweizerischer Philosoph, Diss. phil. Wien 1922.

(*) Schweizer Hans Rudolf, Einleitung zur Neuausgabe der Naturlehre des menschlichen Erkennens, oder Metaphysik ( 1828), Oberwil b. Zug/Hamburg 1985.

Schweizer Hans Rudolf / Wildermuth Armin, Die Entdeckung der Phänomene. Dokumente einer Philosophie der sinnlichen Erkenntnis, Basel / Stuttgart 1981, S. 144–169.

Secrétan Charles, Sur les Idées de Troxler. Bibliothèque universelle Genève 1875.

(*) Steiner Rudolf, Die Rätsel der Philosophie Band 2, GA 18, Dornach 1914.

(*) Steiner Rudolf, Vom Menschenrätsel. Eine vergessene Strömung im deutschen Geistesleben, GA 20, Dornach 1916.

Wildermuth Armin, Die Philosophie I. P. V. Troxlers. Geschrieben zu Händen des Kuratorium Troxlers 1967, in: Emil Spiess, Bibliografie Troxler, Band 37, Glarus 1967.

Zeltner Hermann, Troxlers Philosophie im geschichtlichen Zusammenhang, in: Kuratorium Troxler, Protokolle und Materialien 1968.

[1] Hans Erhard Lauer: Dem Gedenken des Philosophen Troxler, in: Hans Erhard Lauer / Max Widmer, Ignaz Paul Vital Troxler, Oberwil b. Zug 1980.

[2] Emmanuel Hermann Fichte: «Die bedeutendste Leistung für eine richtige und tiefere Erfassung des Menschengeistes müssen wir Troxler zugestehen» in: «Anthropologie» 1876; und in einem Brief an Troxler 1862: «Sie sind einer unserer tiefsinnigsten Geister und der einzige originale Denker, welchen die Schweiz jetzt aufzuweisen hat.»

[3] Z.B. in Die Rätsel der Philosophie, GA 18 und Vom Menschenrätsel, GA 20.

[4] Max Widmer, in: Hans Erhard Lauer / Max Widmer, Ignaz Paul Vital Troxler, Oberwil 1980/Seite 29

[5] a.a.O., S 49.

[6] a.a.O., S 130.

[7] nach Max Widmer, Troxler und Goethe, in: Gegenwart, Zweimonatsschrift für Freies Geistesleben und soziale Dreigliederung, 42. Jg., August/September 1980, Gedenkheft zum 200. Geburtstag von Ignaz Paul Vital Troxler am 17. August 1980, S. 161f.